Turrican und der sozialhistorische Kontext seiner Entstehung.
1990 war nicht nur in der Geschichte der Videospiele ein epochales Jahr. Helmut Kohl sieht endlich seinen politischen Lebenstraum verwirklicht und geht als erster Bundeskanzler des frisch wiedervereinigten Deutschlands in die Geschichtsbücher ein. Sein damaliger Widersacher Oskar Lafontaine , welcher für eine langsame Wiedervereinigung und zumindest vorübergehende Koexistenz der beiden deutschen Staaten in ihren momentanen Grenzen plädiert, wird bei der damaligen Bundestagswahl mit einem auch für die SPD niederschmetternd niedrigen Ergebnis abgestraft. „Grenze“ ist damals für viele Menschen ein Unwort ; vieler Ortens auf der Welt beginnen damals jahrzehntelang gewachsene politische Konfigurationen zu zerbröckeln. Auch in der Sowjetunion gelingt es ersten Staaten, sich vom kommunistischen Regime abzuwenden.
Nach jahrelanger
Stagnation im Zeichen des kalten Krieges herrscht damals in den
Köpfen vieler Menschen ein wahrer Veränderungsrausch. Grenzen
jeglicher Art erscheinen als Relikt vergangener Tage; plötzlich
scheint vieles bisher unmöglich geglaubte mit einem Male
realisierbar.
Der C64 hat
damals eigentlich bereits seinen Zenit überschritten und sieht sich
langsam von den ungleich leistungsstärkeren , allerdings beachtlich
teueren16 Bit Konkurrenten Amiga und Atari ST verdrängt. Die
Wiedervereinigung beschert dem in die Tage gekommenen Brotkasten dann
allerdings noch einmal eine Gnadenfrist.
Die Jugendlichen
in den neuen Bundesländern, damals trunken von allen
Unterhaltungsgeräten aus dem Westen, hatten trotz aller auch in der
DDR vorhandener elektrischer Rechenknechte einen immensen
Nachholbedarf an Heimcomputern. Aufgrund seines geringen
Anschaffungspreises entsteht hier fast über Nacht ein neuer
Massenmarkt für den in die Tage gekommenen 8 Bit Klassiker von
Commodore.
Dieser verlangt
dann natürlich vor allem nach einem. Nämlich neuen Spielen. Für
viele Software Hersteller ist es damals wieder lukrativ geworden,
eine längere Entwicklungsarbeit in hochwertige C64 Titel zu
investieren. Der neu entstandene Markt in den neuen Bundesländern
verspricht schließlich nie gekannte Absatzmöglichkeiten.
Turrican versus technische Restriktionen des C64.
Ein herausragendes
Beispiel von grenzüberschreitenden Brotkasten Klassikern ist das
1990 erschienene 2 D Ballerspiel Turrican. Und dies nicht nur
aufgrund seines vortrefflichen Verkaufes in den neuen Bundesländern.
Der Programmierer des Brotkasten Klassikers, Manfred Trenz , setzte
sich in diesem Spiel nämlich über viele bislang als von der
Hardware vorgegeben geltende technische Restriktionen des C64 hinweg.
Bisher als unmöglich erachtetes verzauberte mit einem Mal die Augen
der Spieler dieser Republik. Obwohl der C64 von Hause aus eigentlich
bestenfalls 8 Spielfiguren ( Sprites ) gleichzeitig darstellen kann,
verlangen in diesem Baller Kunstwerk bis zu 16 Gegner der Erledigung
durch den Joystick. Trotz gerade einmal 64 KB Hauptspeicher – jeder
Taschenrechner ist heutzutage besser bestückt – gibt es bei
Turrican riesige Spielwelten zu bewundern. 13 Level mit einer Größe
von insgesamt 1300 Bildschirmen gilt es von Gegnern zu säubern. Und
dies in einer Farbenpracht, welche man zuvor als auf dem Brotkasten
als nicht realisierbar angesehen hat. Von Hause aus ist der C64
nämlich nur zu der gleichzeitigen Darstellung von 8 Farben fähig.
Hier strahlen die oftmals riesigen Gegner – welch ungläubiges
Staunen , als ich das Spiel damals zum ersten Male zockte - ohne
unangenehmes Flackern in teilweise 16 Farben !
Nicht nur aufgrund
seines Überschreitens vieler als zuvor unumstößlich geltenden
technischen Grenzen ist Turrican ein paradigmatisches Beispiel
seines sozialhistorischen Kontextes. Inhaltlich geht es um die
Befreiung der Welt von einem dreiköpfigen Morgul – einem Dikator
-, welcher nachts im Traum in den Köpfen seiner Untertanen für
Alpträume und Schlaflosigkeit sorgt. Ostblock im futuristischen
Gewand ! Der Spieler hat nun die Aufgabe – selbstmurmelnd
ausgestattet mit Waffen der neuesten technischen Entwicklungsstufe –
den Diktator und seine Schergen in teilweise riesigen
Spielabschnitten zu finden und auszuschalten.
Turrican : Spiel.
Die
Darstellung der Spielabschnitte ist hier klassisch zweidimensional ;
in allen 8 Richtungen bewegt sich der Spieler durch sehr sauber
scrollende Spielabschnitte. Von seinem Spielprinzip ist Turrican eine
Mischung aus Jump and Run und vertikalem Shoot'em Up .
Angereichert mit einer Gehirnzellen stabilisierenden Brise Action
Adventure.
In jedem Spielabschnitt gibt es nämlich
eine gehörige Anzahl an Geheimräumen zu entdecken, in welchen sich
viele Extras (Extrawaffen !! ) abgreifen lassen. Und die Entdeckung
von diesen ist dem Spieler auch dringend geboten. Anfangs steht
nämlich nur ein sehr begrenztes Waffen Arsenal – ein paar Mienen,
eine Wumme mit eher mauer Durschlagekraft - zur Verfügung. Nur
hiermit gegen die teilweise riesigen Gegner anzutreten, ist trotz
wund gefeuertem Daumen ein eher hoffnungsloses Unterfangen !! Jede
Waffe ist manigfach aufstockbar – allerdings nur, wenn die hierfür
notwendigen Extras auch gefunden werden.
Selbstredend steht zur Bewältigung von
jedem Level nur ein beschränktes Zeitkontingent zur
Verfügung. Dieses ist bei Turrican zwar motivierend knapp,
allerdings immer fair bemessen. Mit etwas Übung und genügend
Hornhaut auf dem Feuerdaumen ist auch für einen Durchschnittsspieler
jeder Abschnitt in der geforderten Zeit zu schaffen.
Turrican : Level Design.
Wie bereits beschrieben, ist die
Spielwelt von Turrican für C64 Verhältnisse riesig. Insgesamt 1300
Bildschirme, aufgeteilt auf 13 Level, welche sich in 5 Welten
unterteilen, warten darauf, von Gegnern gesäubert zu werden. Und
diese haben es wahrlich in sich ! 50 verschiedene Gegner bewegen sich
beachtlich intelligent durch die Spielabschnitte. Nach jedem
Unterabschnitt warten teilweise riesige Endgegner auf ihre
Befeuerung. Und riesig ist hier wahrlich nicht untertrieben. Viele
sind deutlich größer als der Bildschirm und trachten hervorragend
animiert nach dem Leben des Spielers. Der Level Aufbau lässt sich
mit den Worten hart, aber fair beschreiben. Der Spieler hat trotz
manchem frühen Ende immer das Gefühl, den jeweiligen Abschnitt doch
noch schaffen zu können. Neuer Versuch neues Glück – trotz eines
anspruchsvollen Schwierigkeitsgrades ist bei Turrican stets für die
„ ich will weiterspielen „ Motivation des Spielers gesorgt.
Turrican : Steuerung.
Hierfür sorgt natürlich auch die
durchdachte Steuerung des Spieles. Wie auf dem C64 üblich, wird das
Spiel mittels eines an Port 2 angeschlossenen Joystick – in den
allermeisten Fällen wohl ein Competition Pro - gesteuert. Mittels
Joystick links oder rechts ist der Spieler dazu zu bewegen, in die
entsprechende Richtung zu laufen. Altbekannt und bereits damals in
den allermeisten Jump and Run Spielen logische Zwangsläufigkeit.
Interessanter ist bei Turrican die Möglichkeit, den Spieler in einen
unverwundbaren Kreisel zu verwandeln. Hierzu ist der Joystick bei
gleichzeitigem gedrückt halten der Space Taste – die lange graue
Taste auf der Brotkasten Tastatur - nach unten zu ziehen. Einmal zum
Kreisel mutiert, können Feinde durch blose Berührung getötet
werden. Kein Vorteil ohne Nachteil : der Kreisel rollt automatisch
und kann mittels Joystick nur nach links oder rechts bewegt werden.
Selbstredend kann der Kreisel Joker nur ein begrenzte Anzahl an Malen
angewendet werden. Pro Leben kann der Spieler maximal 3 mal in einen
Kreisel mutieren.
Nützlich bei Turrican ist es auch, die
F7 Taste im Auge zu behalten. Hiermit kann der Spieler eine Granate
werfen, welche so gut wie alle auf dem Bildschirm befindenden Gegner
zerstört.
Natürlich wurde bei Turrican auch an
einen Pause Modus gedacht. Mittels CTRL Taste kann das momentane
Spiel angehalten werden.
Natürlich gibt es noch andere
Steuerungselemente, auf welche im folgenden nicht weiter eingegangen
werden kann. Zusammenfassend lässt sich feststellen, das bei
Turrican auf dem C64 eine in der Praxis hervorragend funktionierende
Kombination aus Joystick und Tastatur Steuerung implementiert wurde.
Bereits nach kurzer Einspielphase ist diese auch von einem
Durchschnittsspieler intuitiv zu handeln.
Turrican : Musik und Geräusche.
Bezüglich Musik und Geräuschen kann
Turrican auf ganzer Linie überzeugen. Die Titelmusik, für welche
sich mit Chris Hülsbeck und Stefan Hartwig zwei Ausnahmetalente der
spät 80er Jahre Computermusik verantwortlich zeigen, kann auch heute
noch uneingeschränkt überzeugen und wurde nicht ohne Grund von
vielen Künstlern die letzten 20 Jahre über remixt. Auch hier wurden
die technischen Grenzen des C64 scheinbar selbstverständlich
überwunden. Von Haus aus ist der Soundchip des C64 eigentlich nur in
der Lage, 3 Stimmen zu erzeugen. Bei Turrican trällern auf
wundersame Weise deren 5 aus dem Lautsprecher des Commodore Monitor (
oder damals wahrscheinlicher : dem heimischen Röhren Farbfernseher).
Aber auch bezüglich seiner Komposition weiß die Musik zu gefallen –
treibende Synthie Klänge treiben den Spieler zu immer neuen
Bestleistungen an. Wer sich von der Musik einmal ein Bild machen
möchte und keinen C64 mehr sein eigen nennt, wird bei youtube und
anderen Plattformen mittels der Suchbegriffe C64 + Turrican +
Soundtrack relativ rasch zu seinem erwarteten Ohrenschmaus gelangen.
Heutzutage tausendfach gehörter
Standard , damals zumindest auf dem Brotkasten revolutionär : da
Spiel geizt nicht mit Sprachsamples. Gleich zu Beginn begrüßt eine
etwas pathetisch und finster klingende Stimme den Spieler mit
markigen Sätzen der Art „ Welcome to Turrican. Shoot or die “ .
Ein Satz, welcher damals wohl fest im
Sprachgebrauch von jedem 12 jährigen verankert war.
Die Geräusche passen bei dem Spiel
perfekt zu der jeweiligen Spielsituation. Einige Gegner kündigen
sich durch entsprechende Geräusche bereits im Vorfeld an. Sie sind
bei Turrican selten nur Selbstzweck und erfüllen zumeist eine
bestimmte Funktion.
Weniger ist oftmals mehr. In den Jump
and run Levels wurde bewusst auf Hintergrundmusik verzichtet. Hier
rennt der Spieler in einer fast schon klaustrophoben Stimmung durch
die riesigen Spielabschnitte. Die Ohren werden hier nämlich nur
durch die Geräusche der herannahenden Gegner Formationen abgelenkt.
Eine gespenstische Stille ; die Spannung des Spielers steigt in das
schier unermessliche.
Sowohl Geräusche als auch Musik
verdienen im Falle von Turrican die Bestnote. Technisch perfekt,
dient beides dem bewussten Spannungsaufbau und erfüllt somit stets
einem vorher festgelegten Zweck. Level Aufbau und musikalische
Untermalung ergeben hier eine untrennbare Einheit. Derartiges
Vorgehen ist auch heutzutage noch nicht selbstverständlich, da bei
vielen Spielen Geräusche und Musik relativ willkürlich erscheinen.
Turrican : Auf dem heimischen PC.
Nicht jeder, der den 1990er Klassiker
zuhause einmal zocken möchte, wird einen C64 zur Hand haben. Auch
nicht unbedingt notwendig, da für den PC zahlreiche recht
leistungsstarke C64 Emulatoren zur Verfügung stehen. Eine brauchbare
Anleitung, wie ein derartiges Programm zu installieren ist, findet
sich unter : http://www.nemmelheim.de/turrican/files/vice/index.php.
Komplett ohne Joystick und nur mit der
PC Tastatur ist der Action Kracher natürlich etwas umständlich zu
steuern. Wer gefallen an dem Spiel gefunden hat, sei daher zum Kauf
eines C64 Competition pro ( der mit dem roten Schaltknüpel ) in der
USB Variante geraten. Ein derartiges Eingabegerät macht die
Brotkasten Illusion fast perfekt und ist bei den entsprechenden
Versandhäusern für + / - 20 Euro erhältlich.
Turrican : Umsetzungen für andere Systeme.
Turrican entwickelte sich 1990 zu einem
beachtlichen Verkaufserfolg. Wenig verwunderlich, das in rascher
Abfolge Adaptionen für fast alle damals populären Heimcomputer- und
Konsolen Systeme (Game Boy, Sinclair Spectrum, CPC, Atari ST , Amiga
etc) folgten. Während die meisten Umsetzungen der C64 Version in
technischer Hinsicht nicht das Wasser reichen konnten , übertraf
sich das Entwicklerteam mit der Commodore Amiga Version noch einmal
selbst und verhalf diesem sicherlich zu einem zusätzlichen
Popularität Sprung .
Turrican : Zusammenfassende Kritik.
1990 wie heute : Turrican hat
fraglos volle 5 Punkte verdient. In einer Epoche, welche sich
selbst am Ende der Geschichte (Fukuyama , 1992) sah und sich der
Brotkasten (C64) eigentlich bereits auf dem absteigenden Ast befand,
zeigte das Entwicklerteam um Manfred Trenz, was auf dem betagten
Commodore Rechner eigentlich alles möglich ist. Technische
Restriktionen wurden hier mit einer programmiertechnischen
Leichtigkeit außer Kraft gesetzt. Jeder heutige Entwickler, welcher
in immer rascherer Abfolge nach schnellerer Hardware schreit, sollte
sich hieran ein Beispiel nehmen und endlich lernen, da gegebene auch
wirklich auszureizen.
Aber auch abseits dieser technischen
Meisterklasse ist Turrican ein Jahrhundert Titel, in welchem
tonnenweise Spielspaß steckt. Die Motivation ist riesig, der
Levelaufbau durchdacht und die Gegner Formationen beeindruckend. Die
grafische Perfektion des Spieles geht hier mit Soundeffekten einher,
welche die jeweilige Spielsituation beinahe filmreif untermalen.
Ohne Frage ein Meilenstein in der Geschichte des C64.
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